Mehr Muskelaufbau durch Muskelversagen?

Einzelne Studien außerhalb des Kontextes zu interpretieren ist gefährlich. Im Mai 2023 erschien der Preprint einer Meta-Analyse, in der untersucht wurde, wie sich Training bis zum Muskelversagen auf Kraftzuwächse und Muskelaufbau auswirkt. Kurz das eindeutige Ergebnis, bevor wir uns dann einmal ansehen, wie diese Erkenntnisse zu bewerten, in den Gesamtkontext einzuordnen und in die Praxis zu transferieren sind.

Außerdem – und das ist extrem wichtig für all diejenigen, die ständig sagen „zeig mir ne Studie dazu“ oder sich davon beeindrucken oder überzeugen lassen, wenn Influencer haufenweise Studien aufführen: Hier bekommst Du einen mal einen Eindruck davon, was es bedeutet, eine Studie wirklich zu lesen und zu verstehen. Die meisten haben bestenfalls das Abstract oder die Conclusion gelesen – und das ist eben nicht einmal die Hälfte der Wahrheit.

Im vorliegenden Paper „Exploring the Dose-Response Relationship Between Estimated Resistance Training Proximity to Failure, Strength Gain, and Muscle Hypertrophy: A Series of Meta-Regressions“ (Robinson et al. 2023) wird herausgearbeitet:

The dose-response relationship between proximity to failure and
strength gain appears to differ from the relationship with muscle hypertrophy, with only the
latter being meaningfully influenced by RIR. Strength gains were similar across a wide range of
RIR, while muscle hypertrophy improves non-linearly as sets are terminated closer to failure.

⇒ Je näher an das oder bis zum Muskelversagen trainiert wird, desto besser Ergebnisse beim Muskelaufbau.

⇒ Für Kraftzuwächse hat Training zum Muskelversagen weniger Bedeutung.

Okay, wie ist das zu interpretieren?

Die Ergebnisse, die Du in der Meta-Analyse siehst, zeigen nichts weiter als akkumulierte Zusammenhänge zwischen Training zum Muskelversagen, die in nach gewissen Kriterien ausgewählten Studien gezeigt werden konnten.

Wenn man also wissen will, wie relevant die Ergebnisse für die eigene Trainingspraxis sind, schaut man sich natürlich diese Kriterien als erstes an. In der vorliegenden Meta-Analyse waren die wie folgt:

  • Es wurden alle bereits existierenden relevanten Meta-Analysen zu dem Thema einbezogen.
    Was relevant bedeutet und nach welchen Kriterien in diesen Meta-Analysen die Studien ausgewählt wurden, bleibt leider bereits auf der Strecke und wird im vorliegenden Paper nicht weiter ausgeführt. Erster großer Blindspot.

Es folgen Standard Kriterien:

  • Auf englisch in einem peer-reviewten Journal publiziert.
  • Die Teilnehmer hatten keine medizinischen Probleme.
  • Es wurden vergleichbare Bedingungen bzgl. Satz- oder Wiederholungszahlen und bzgl. der Trainingsintensität geschaffen.

Sowie die Bedingungen, …

  • dass Maximalkraftmessungen durchgeführt wurden – ohne weitere Ausführungen. Heißt theoretisch: Es kann sein, dass zwar einmalig getestet, aber nicht vergleichbar und validierbar ge-retestet wurde. Davon gehen wir aber fairerweise einfach mal aus.

und/oder

  • Hypertrophie gemessen wurde.

sowie

  • mindestens zwei „proximities to failure“, also unterschiedliche Abstände bis zum Muskelversagen, verglichen wurden.

Zwischenfazit

Wenn man aus dieser Meta-Analyse eindeutige Schlüsse ziehen will, müsste man theoretisch in diese einbezogenen Meta-Analysen auf ihre Kriterien und Verfahren prüfen. Wenn man das nicht tut, hat man an diesem Punkt eigentlich bereits den Überblick verloren.

Aber hey, gehen wir einfach mal davon aus, dass die Daten alle clean sind und den Kriterien entsprechen.

Welchen Interpretationsspielraum für potenzielle Ergebnisse haben wir an dieser Stelle – das große Problem

Wir wissen leider nicht,

  • welche Übungen genutzt wurden.
  • wie welche Übungen kombiniert wurden.
  • wie trainiert die Versuchsteilnehmer waren.

Verstehst Du, was ich meine?

Es ist ein Unterschied, ob Du bei der Kniebeuge oder auf der Beinpresse ans Muskelversagen trainierst.
Es ist ein Unterschied, ob Du als Anfänger mit der 40 kg Hantel zum Muskelversagen kommst oder als Fortgeschrittener mit 150 kg.

Die systemischen Effekte sind komplett anders. Die Interpretation einer so allgemein ausgewählten Datengrundlage ist nicht spezifisch interpretierbar. Bereits an diesem Punkt schon nicht, obwohl wir uns die Auswertung noch nicht einmal angesehen haben. Aber gut, machen wir das einfach mal.

Wie wird bestimmt, ob und wie nah am Muskelversagen trainiert wird?

Durch die RIR.

Was bedeutet RIR?
RIR sind Reps in Reserve, also die Anzahl der potenziellen Wiederholungen, die Du vor Beendigung des Satzes noch absolvieren könntest.

Heißt: Du kannst mit 100 kg 10 Kniebeugen, aber

  • machst nur 9? Eine würde noch gehen: RIR1.
  • machst nur 8? Zwei würden noch gehen: RIR2.

Prinzip klar?

Gut. Denn wie nah in den berücksichtigten Daten ans Muskelversagen trainiert wurde, erfassten die Autoren mit der RIR.

Und da kommt das nächste Problem: Die RIR wurde gar nicht in allen berücksichtigten Studien erhoben!

Da stellt man sich als Wissenschaftler natürlich die Frage: Wo bekomme ich jetzt meine Datengrundlage her? Naja, man schätzt sie und nutzt dafür ein Schätzverfahren, dass im Anhang der (noch nicht veröffentlichten, aber von Influencern inflationär zitierten) Studie zu finden ist.

Übrigens merken die Autoren selbst an, dass die Genauigkeit der Schätzungen nicht wirklich bewertet werden kann.

Aber auch hier bleiben wir fair: Es gibt gute Schätzverfahren, um entsprechende Daten von Probanden potenzieller heterogenster Trainingslevel gut zu … ja, was sagt man da … kreieren? Whatever. Sowas kann wirklich möglich sein und wir nehmen einfach mal an, dass das funktioniert hat.

So. Nach all den Hürden, die uns zeigen, was man berücksichtigen darf,

  • bevor man die Ergebnisse einer Studie im Social Media postet…
  • in seinem eigenen Trainingssystem verwendet…
  • oder gar in seine Bücher integriert…

kommen wir endlich zu einem etwas spannenderen Punkt:

Die daraus resultierende Einteilung der Gruppen zur Datenerfassung.

Okay, klingt doch nicht so spannend, aber Du sollst ja alles bekommen.

  1. Gruppen, die bis zum Muskelversagen (RIR0) trainiert haben.
  2. Gruppen, die Geschwindigkeit reporten.
  3. Gruppen, die RIR reporten.
  4. Gruppen, die Gewichte und Wiederholungen reporten.
  5. Gruppen, die mit alternativen Satz Strukturen (nicht näher erklärt) trainieren.

Von den vorliegenden Parametern wurde dann auf die RIR geschlossen.

Für die Nachvollziehbarkeit:

Beim Beispiel Geschwindigkeit könnte so eine Berechnung wie folgt aussehen.

Mit einem gegebenen Gewicht wird vom Nachlassen der Kontraktionsgeschwindigkeit auf die Ausbelastung geschlossen und die RIR rechnerisch ermittelt. Du kennst das vielleicht selbst: Die letzten Wiederholungen in einem anstrengenden Satz werden immer langsamer, weil Du ermüdet bist und näher als Muskelversagen kommst.

Bei der Berechnung der RIR anhand der Sätze und Wiederholungen wird meist die prozentuale Maximallast gegen die Wiederholungen gerechnet. Die Autoren zitieren hier zum Beispiel, dass bei untrainierten Frauen 4,65 Wiederholungen mit 90% ihres Maximalgewichtes möglich sind (bilaterale Beinübung, wahrscheinlich Beinpresse) und sie 4 Wiederholungen, also RIR0,65 absolvierten.

Ist das genau?

Diese Berechnungen sind im Schnitt teilweise brauchbar, aber in der Praxis und vor allem bei trainierten Sportlern von stark schwankender Aussagekraft. Z. B. haben Crossfitter (und ich weiß es, weil ich selbst einen der besten im DACH Raum trainiere) oft absurd hohe Wiederholungskapazitäten nahe an ihrem 1RM, Gewichtheber hingegen extrem niedrige.

Von Daten mit untrainierten Frauen kann man da weder Rückschlüsse ziehen, noch die gleichen Rechenmodelle nutzen und treffende Ergebnisse erwarten. Auch das erwähnen die Autoren selbst im Rahmen der Limitierungen der Studie.

Der entscheidende Punkt?

Bei aller Kritik und Zweifeln – die Autoren haben natürlich mitgedacht und einen spannenden Punkt berücksichtigt:

Sie haben Muskel-RIR und Übungs-RIR verglichen.

Bedeutet?

Wenn Du Langhantel Kniebeugen trainierst und nicht mehr ganz am Anfang stehst, wirst Du selten bis zum Muskelversagen im Quadrizeps trainieren. Stattdessen versagt vorher die Technik, das zentrale Nervensystem (ZNS) oder etwas anderes. Systemische Komponenten.

Wenn also Dein Backsquat bei RIR0 ist, kann es sein, dass Dein Quadrizeps noch Power hat.

Deswegen haben die Autoren, sofern die Daten das hergaben, auch die RIR des isolierten Muskels betrachtet. Beim Backsquat wäre das also der Vergleich mit der Beinstrecker Maschine.

Die Daten wurden dann mit Hilfe statistischer Programme und Verfahren ausgewertet, um Korrelationen zu ermitteln.

Auswirkungen von Muskelversagen (RIR0 oder niedriger) – die Ergebnisse

Muskelversagen und Kraft

Zuerst betrachten die Autoren die Auswirkungen auf die Kraftentwicklung – Reminder – wir wissen nicht, wer hier mit welchen Protokollen (wie) trainiert wurde. Hier wurde festgestellt, dass, je nach Wiederholungszahl und Load die „Verbesserungen der Kraftzuwächse vernachlässigbar mit niedrigerer RIR korrelieren“ oder sogar „bessere Kraftzuwächse mit Abstand zu Muskelversagen“ realisiert wurden.

Etwas Special Wissen zum Kraftaufbau bekommst Du übrigens in diesem Insta Post. Die Basics für Kraft VS Muskelaufbau dafür in diesem Artikel knackig auf den Punkt.

Muskelversagen und Hypertrophie

Hier sind die Ergebnisse der Meta-Analyse im gegebenen Kontext eindeutig. Niedrigere RIR führt zu besserem Muskelaufbau, vor allem, wenn die Gewichte schwer genug sind (>77,5% 1RM). Dabei arbeiteten die Autoren heraus (und davon steht leider nichts mehr im Abstract und auch im Social Media wirst Du diesen Satz nicht finden), dass Muskelversagen an Relevanz verliert, wenn mit höheren Loads (>77,5% vom 1RM) trainiert wird.

The positive slope indicates that training closer to failure has less of an impact when training with heavy loads. Specifically, loads >77.5% of 1RM exhibited positive slopes but only loads >80% of 1RM did not contain a null point estimate within the confidence interval. […] Therefore,
training closer to failure is more beneficial for muscle hypertrophy with lighter rather than heavier loads.

Hoffentlich überrascht es niemanden,

dass es bei Mehrgelenkübungen bessere Kraftzuwächse bei höherer RIR (Abstand zum Muskelversagen) gab. Sonst bitte nochmal Basics lernen, denn wenn Du Dich ein wenig mit Krafttraining auskennst, weißt Du, dass es viele Gründe gibt, Muskelversagen bei Mehrgelenkübungen zu vermeiden, wenn man stärker werden möchte.

Die Autoren erklären die Ergebnisse bezüglich Hypertrophy anschließend mit den gängigen, physiologischen und trainingswissenschaftlichen Begründungen, die es schon seit Jahren gibt – und die ich hier nicht noch einmal wiederkäue. Die Basics zur aktuellen Trainigswissenschaft findest Du allerdings auch in diesem Artikel zu Brad Schoenfelds Seminar.

Muskelversagen in der Praxis?

Naja, eigentlich nichts Neues, falls Du mir schon eine Weile folgst.

Ja, Muskelversagen ist einer von drei Faktoren für Muskelaufbau.
Nein, das bedeutet nicht, dass man alle Übungen und Sätze bis zum Muskelversagen trainieren sollte – auch nach dieser Studie nicht.

Egal, ob das Ziel Kraft oder Muskelaufbau ist: Der alles entscheidende Faktor ist und bleibt progressive Overload.

Du baust keine Muskeln auf, wenn dein ZNS platt ist, Du krank oder verletzt bist. Dem entsprechend wäre es schlicht und ergreifend extrem dumm, schwere Mehrgelenkübungen wie Kniebeugen und Kreuzheben regelmäßig bis zum Versagen zu trainieren.

So kann es im Training aussehen

Schwere Verbundübungen nutzt Du z. B. in einem intelligenten System so, dass sie systemische und hormonelle Auswirkungen haben, Dein ZNS und die Mechanorezeptoren planbar hochregulieren und Du gesund bleibst. Muskelversagen nutzt Du als einen möglichen Faktor gezielt bei Isolationsübungen.

Das größte Problem in der Praxis

… ist, dass die meisten Leute weder ihren Kraft- noch ihren Muskelaufbau Part selbst sinnvoll strukturieren können und sich deswegen durch vermeintliche neue Studienergebnisse ständig auf Irrwege führen lassen.

Die einfachste Lösung dafür ist, einmal alles von Grund auf sauber aufzubauen: Übungen, Trainingsprogramm und Begleitfaktoren. Bock darauf? Dann klick einfach mal hier für persönliche Rückfragen oder schreib mir eine Mail mit Deinem konkreten Ziel (vincent@intelletics.com). Der Weg ist kürzer und einfacher als Du denkst, wenn Du einfach ohne Ablenkung und mit Struktur die entscheidenden Dinge richtig machst.

Offene Fragen zu diesem Artikel dürfen gern in die Kommentare.

Herzliche Grüße
Vincent Braukämper

Strength und Performance Coach in Bochum

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